Arm sein, in Paris in der Gastronomie arbeiten und in London von einer Obdachlosenunterkunft zur nächsten ziehen – in seinem Klassiker Down and Out in Paris and London (1933) hat George Orwell seine Erlebnisse als Armer unter Armen beschrieben. Man kann darin ein Lernprogramm in Empathie sehen. Nützlich zu lesen in einer Zeit, in der nach den Gefühlen der Bürger gefragt wird. Wie empathisch kann ein Bürger mit seinen Mitbürgern umgehen?

Autor George Orwell beschreibt in Erledigt in Paris und London: 1933, eine enge Straße in Paris. Alle Billighotels voll mit Polen, Arabern und Italienern. Bistros, wo man sich für wenig Geld einen Vollrausch antrinken kann. Abends Auseinandersetzungen mit Stühlen und manchmal auch Revolvern. Nachts gingen die Polizisten nur noch zu zweit auf die Straße, berichtet Orwell. Er beschreibt die Armut vor diesem romantischen und spannungsgeladenen Hintergrund und zugleich auch die Unschuld dieser Zeit, – denn heute gehen die Polizisten auch tagsüber nicht mehr allein.

Down and Out steht für die untersten Ränder der Gesellschaft, Obdachlose, Tramps und Arbeitssklaven in der Gastronomie sind „unten“ und „draußen“. Von Armut gezeichnet sind schon ihre überlebenswichtigen Grundbedürfnisse: ein Bett, Essen und Kleidung – und Respekt. Orwells doppelte Perspektive – er ist arm und beobachtet Armut – vermittelt Erkenntnisse über Einfühlungsvermögen. Das Buch ruft noch immer moralische Reaktionen hervor, wie aus der Vielzahl der Rezensionen auf der Plattform Goodreads hervorgeht. Junge Amerikaner lesen diesen Bericht, um sich auf ihre erste Reise nach Paris vorzubereiten. Auf den Treppen bei der Sacré-Coeur-Kirche sah ich einen jungen Studenten, der den Titel demonstrativ sichtbar präsentierte, das Buch fungierte als symbolisches Kapital. Man kann darin mindestens drei Lektionen in Empathie finden.

Lektion 1: Armut kann jeden, auch mich selbst, treffen

Empathie erwächst aus konkreter Erfahrung von Armut. Orwell wird daswenige Geld, das er besitzt, gestohlen und er schreibt: „Du hast schon so viel über Armut nachgedacht, dein ganzes Leben hast du dich vor ihr gefürchtet, du wusstest, dass es früher oder später so kommen würde.“ Er kann nun nicht mehr zum Friseur gehen oder seine Kleidung waschen lassen. Er meidet wohlhabende Bekannte. Von seinem letzten Geld kauft er einen halben Liter Milch.

Die Armut hat aber auch etwas Befreiendes. Durch seine Armut kann der zwanzigjährige Orwell empathisch sein, sich in andere einfühlen. Er kann keine Unterschiede zwischen Menschen feststellen. „Wenn du genau hinschaust, dann siehst du, dass es keinen wesentlichen Unterschied gibt zwischen dem Leben eines Bettlers und dem Leben einer beliebigen Anzahl respektabler Menschen.“

Eine Arbeitswoche von 126 Stunden ist auf den untersten Ebenen der Pariser Gastronomie nicht ungewöhnlich.

Dem Hunger entgeht Orwell als Tellerwäscher. In einer ekligen, engen Hotelküche arbeitet er täglich achtzehn Stunden, an sieben Tagen in der Woche. Eine Arbeitswoche von 126 Stunden ist auf den untersten Ebenen der Pariser Gastronomie nicht ungewöhnlich. Jobs als Kellner sind beliebter, aber hierfür muss man gut aussehen, womit wir zu der zweiten Lektion in Empathie kommen.

Lektion 2: Sich der Normalität anpassen, aber der Diktatur der Normalität gegenüber kritisch bleiben

Ein Mann färbt die Haut unter seinen verschlissenen Socken mit schwarzer Tinte, damit er sich so bei einem Arbeitgeber vorstellen kann. Orwell selbst ist froh, dass er seinen besten Anzug wieder von seinem Vermieter zurückkaufen kann. „Du musst so tun, als ob du ziemlich normal leben würdest.“ Dieses Spiel von Anpassung und Einstellung auf die Normalität ist auch eine Form der Empathie: man denkt sich in die Erwartungen der anderen hinein.

So zu tun als ob, im Bewusstsein, dass man so tut als ob, ist das doppelte Bewusstsein, das den Menschen in der Spätmoderne mit sich entzweit. Wir sehnen uns nach Authentizität, aber der Wunsch an sich weist schon auf eine Entfremdung hin. Erkennbar gibt es etwas, das uns davon abhält, wir selbst zu sein. Der amerikanische Soziologe Arly Hochschild zeigt sehr gut die Entfremdung bei den Dienstleistern in der Luftfahrt, den Türstehern und in der Pflege. Arbeitnehmer leisten Gefühlsarbeit, ihre Emotionen und Gefühle dienen den Kunden. Hochschild weist auf die negativen Folgen dieser Emotionen auf Abruf hin: Menschen werden depersonalisiert, sie wissen nicht mehr, was sie wirklich fühlen.

Und George Orwell? Während die Gäste speisen, wäscht er ab und (ver)zweifelt an der Realität. „Ob die Arbeit einen Nutzen hat oder nicht, produktiv oder parasitär ist, die einzige Bedingung ist, dass die Gewinn bringt.“ Er fragt sich, ob es wirklich ein Bedürfnis gibt an großen Hotels und Restaurants und beurteilt die angebotenen Dienstleistungen als vermessenen Luxus. Die Angst vor den Armen liegt der nutzlosen, schlecht bezahlten Arbeit zugrunde. Die Armen könnten gefährlich werden, wenn sie nicht arbeiten.“ (…) „Arbeit ist an sich gut – für Sklaven zumindest.“

Lektion 3: Erwarte keine Dankbarkeit von den Menschen, denen du hilfst

In London schläft unser Chronist in Schlafsälen mitten unter röchelnden Männern, die offenbar am Ende sind, er wäscht sich in demselben Badewasser wie zwanzig andere und lebt von zwei Schnitten Brot mit Margarine am Tag. Die Schlafsäle werden von Christen betrieben, die im Gegenzug dafür erwarten, dass man betet und ihren Predigten lauscht. Das macht die Tramps allerdings wirklich rebellisch. Was er während seiner Zeit bei den Tramps wirklich gelernt hätte, meint Orwell, ist, dass er niemals Dankbarkeit erwarten sollte, wenn er ihnen etwas gibt.

Orwells Unten- und- draußen- Formel der Empathie, mit einem guten Schuss Hochschild, bedeutet dass unser Einfühlungsvermögen umso mehr wächst, je häufiger wir selbst arm sind. Wir verstehen dann, welche – manchmal extreme – Anpassung von Menschen verlangt wird und begreifen, was von uns erwartet wird, nämlich keine Dankbarkeit. Empathie kann man lernen, wobei die Randbemerkung angebracht ist, dass Orwells Lektionen in Empathie selektiv sind: auf Frauen und jüdische Bürger erstreckt sich seine Empathie nicht, was zu peinlichen Szenen führt.

Die Drei-Lektionen-Empathieformel wenden wir zum Schluss noch auf den Studenten an, der auf den Stufen von Sacre´-Coeur Orwells Buch las. Er wird nach derLektüre von Down and Out in Paris and London anders auf die Clochards blicken, in dem Bewusstsein, dass auch er seine Wohnung verlieren kann. Er passt sich an, aber gleichzeitig weiß er, dass die Welt von ökonomischer Rationalität durchtränkt ist. Er verschenkt sein Brot, ohne Dankbarkeit zu erwarten. Er macht nicht mit bei der unsere Gesellschaft durchziehende emotionale Arbeit, denn der Clochard verdient kein gekünsteltes Lächeln und unser Student ist kein Client whisperer oder Kundenversteher. Was er von Orwell lernt, das ist also keine Affektion, sicher keine künstliche Affektion, sondern selektive Empathie.

Übersetzung: Renate Brucker

Titel der Originalausgabe: Cursus Selectieve Empathie in Parijs en Londen. erschienen in: Tijdschrift voor Sociale Vraagstukken. pp.40-41, Nummer 2, Zomer 2013.

Literatur

Hochschild, Arly Russell 2012. The managed Heart – Commercialization of Human Feeling. University of California Press. Updated edition.

Orwell, George 1933. Down and Out in Paris and London. The University of Adelaide Library. Ebook. Version 10/11/2012.

Orwell, George 1978. Erledigt in Paris und London. Diogenes Verlag.