Soziologin Helga Nowotny diagnostiziert: mediale EigenZeit; Uchronien (Zeit-Utopien); Forschung und ihre Biografie:

„(…) für die gesamte Geschichte der Menschheit ist Neugier eine wichtige Triebfeder. Das gilt insbesondere für Kunst und Wissenschaft. Wir wollen über das, was wir vorfinden, hinausgehen, es drängt uns mehr zu wissen über die Welt, die uns umgibt.“

“Es ist nicht alles so leicht, wie es von Außen oder im Nachhinein aussehen mag. Man darf sich aber nicht entmutigen lassen, wenn es Schwierigkeiten gibt.”

„Das Geheimnis jeder guten Forschung ist, die richtigen Fragen zu stellen. Es geht also nicht um die Frage „Wie kann ich die Welt verändern?“ Die Frage nach Veränderung muss auf das heruntergebrochen werden, was mit uns hier und jetzt, also in einem beschreibbaren und diagnostizierbaren gesellschaftlichen Kontext zu tun hat. Es ist dieses sich Entlangtasten an einem Strang von guten Fragen, das einen weiter bringt. Auf diese Weise gelangt man dann auch zu Antworten, die freilich immer vorläufig sind und zu neuen Fragen führen. Womit wir am Schluss wieder bei der Neugier angelangt wären.“ (Helga Nowotny)

Das komplette Interview mit Helga Nowotny publizierte Soziopolis: Keine Zeit für Utopien am 20.07.2018. https://soziopolis.de/verstehen/wie-spricht-die-wissenschaft/artikel/keine-zeit-fuer-utopien/

Ich bedanke mich recht herzlich bei Helga Nowotny, bei Barbara Blatterer (Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds) und bei Karsten Malowitz (Hamburger Institut für Sozialforschung).

Eigenzeit und Time

Und aus reiner Neugier und Freude über das besondere Gespräch schrieb ich noch Folgendes dazu: ‘Wie man nicht überkategorisiert und trotzdem einen Klassiker schreibt’, weil das Buch Eigenzeit, in English: Time: The Modern and Postmodern Experience ein Klassiker ist.

Mit Les mots et les choses (1966) warnte Michel Foucault vor einem Tod des Subjektes und einem Sterben der Wissenschaften durch Überkategorisierung. Menschen würden so lange und so tief forschen, bis sich die Diversität immer weiter ausweitet, die Anatomie der Gesellschaft die Form eines Strahlenkranzes annehmen und eine Sammlung von Mittelpunkten eine enorme Verschiedenheit an Strahlen verbreiten würde.

Wissen über Zeit

Als Forschungsthema ist auch ‘Zeit’ stark davon betroffen: besetzt von Utopisten, Wissenschaftlern und Uhrmachern, umworben, umstritten und in freundlicher und feindlicher Besetzung gedeutet von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Bürgern und Unternehmern, ist ‘Zeit’ Subjekt täglicher Streits und Verhandlungen. Es gibt viele Zeiten, viele Wahrnehmungen, viele Übergriffe, und eine Menge an Wissen über Zeit in all ihren Formen. Auch ‘Zeit’, so kann man sagen, ist überkategorisiert im Foucault`schen Sinne.

Umso erfreulicher ist es, dass es eine Autorin gibt, die diese Komplexität dekonstruiert und versucht, sich zu befreien von wissenschaftsdisziplinären Grenzen, von empirischen Subthemen und die einigermaßen intellektuell befreit schreibt über Zeit. Helga Nowotny tat dies Ende der 80er in ‘Eigenzeit, Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls‘ (Suhrkamp 1989). Das Buch ist eine thematische Monographie in fünf Kapiteln, im Englischen übersetzt als Time. The modern and postmodern experience (Polity 1996)

Ich-Zeit-Perspektive

Neu an Nowotnys Forschung war die Entdeckung – und die Wiedergabe eines Zeitgefühls – der ‘Ich-Zeit Perspektive’ und die Analyse einer neuen Verfügungskategorie: die Verfügung über die eigene Zeit. Auf dem Sprung zum digitalen Zeitalter deutete Eigenzeit in 1989 auf eine Befreiung von der kollektiven Zeit, vor allem auch, schrieb Nowotny aus einer eher west-europäischen Sicht, gegeben durch ein Heraustreten der Frauen in die Welt aus der Privatzeit der Familie.

Mit einer Vertiefung des Verständnisses von Zeitstrukturen und zeitlichen Begrenzungen durch eine präzise, klare Sprache schafft Nowotny es, die erstreckte Gegenwart zu fassen und dabei Konzepte wie Gleichzeitigkeit, private Zeit und Uchronien (die Zeitutopien) zu deuten. Ihr gelingt dabei die Darstellung der Politisierung der Zeit, ohne selber politisch zu werden, womit das Buch selber bisher nicht aus der Zeit gefallen ist.

Die mediale Eigenzeit

Ihre Diagnose des heutigen Zeitgefühls in Eigenzeit Revisited (2017. In: An Orderly Mess. CEU Press) hat die ‘mediale Eigenzeit’ ins Visier gerückt. Digitale Technologie könnte dabei einen Weg zeigen, der sich vom linearen Zeitbegriff entfernt, auf der Suche nach Gleichzeitigkeit oder auch nach neuen und alten körperlichen Rhythmen, um nur zwei der vielen Optionen zu nennen. Was dabei auffällt: Helga Nowotny schreibt in ihren kürzlich erschienenen Büchern über Unordnung, Messiness und Ungewissheit. Das heißt aber nicht, dass wir aufhören sollten, die unterschiedlichen Bedeutungen nicht wissen zu wollen und zu müssen. Die Komplexität der Abläufe scheint für sie ein klares Zeichen zu sein, dass sie das als Wissenschaftler auch vermitteln muss: das Leben mit Unsicherheiten. So Interpretieren, das ist auch ein Versuch, die Wissenschaften doch noch zu retten vor einem gewissen Tode durch Überkategorisierung.

Das Interview lesen? Soziopolis.de/verstehen/wie-spricht-die-wissenschaft/artikel/keine-zeit-fuer-utopien/

 

Helga Nowotny Time Book Cover