Publiziert in: DORF MACHEN Improvisationen zur sozialen Wiederbelebung. Jovis 2017. Seite: 19.Mai 2015; 8.40 Uhr (die Seiten sind chronologisch geordnet)

Bodenwerte_2: “So findet im Sommer eine Art Gnuwanderung statt. Menschen verlassen ihre kostspieligen Wohnungen, flüchten vor dem Normalleben und verlassen die Stadt. Paris, Berlin, Köln und Kassel würden verlassen wirken, wäre da nicht noch diese Gegen-Gnuwanderung, mit Touristen, die massenhaft an den großen Attraktionen vorbeiziehen. Flüchtlinge, die es irgendwie auch bis dorthin geschafft haben, verkaufen Ledertaschen und Schmuck.”

Schwärme und Sommerfestivals

Jeder, der mal auf Brennnesseln oder ähnlich Hartnäckiges eingehackt hat, weiß, dass Land nicht so leicht zu bearbeiten ist. Und sicher ist es nicht leicht, zur Ernte von Essbarem zu kommen. Wer eine Utopie wie Thoreaus Walden (1854) kritisch liest, weiß, dass aus seinen Kartoffeln, Kürbissen und Wassermelonen nichts wurde. So wie auch heutige Gartenanfänger es schwer haben: Ihr Enthusiasmus führt nicht selten dazu, dass zu viele Pflanzen auf engem Raum ums Überleben kämpfen. Schnecken werden begeistert begrüßt und auf der Schnecken-Infokarte des Naturschutzbundes aufgezeichnet, anstatt sofort weit abtransportiert zu werden. Und während der Gartenfreak gerade interessante Blogs über exotische alte Gemüsesorten liest, vertrocknet der Reality-Salat. Vielleicht ist es tatsächlich leichter, in der Stadt Pfandflaschen zu ernten, als auf dem Land Salat anzubauen.

Freilandmenschen

Beim Boden und beim Bleiben aber fängt alles an. Weil es sich hier um einen Theoriekurs handelt, würden wir gerne erst auf folgende, historisch einzigartige Chancen, hinweisen: Eine Mischung aus demografischer und globaler Entwicklung schafft nämlich sehr günstige Konditionen zum Freilandmensch-Werden. Früher war Eigentum fest in der Hand von Gutsherren oder Bauern und wurde vererbt. Diese Zeiten sind vorbei. Land ist Investitionsobjekt und manche globalen Firmen brauchen nur einen Briefkasten in einem Steuerparadies. Die kleinen, nicht in Geld umsetzbaren Grundstücke bleiben übrig. Das bietet DIE Chance für den Freilandmenschen.

Immobilität

Die Hauptfrage dabei: Ist der heutige Mensch noch ausreichend sesshaft, um Siedler, um Kolonist zu werden? Fehlt ihm nicht gerade die Gabe zur Immobilität, die eine Immobilie dringend braucht? Hier gibt es einige faszinierende Umstände zu deuten. Der belgische Soziologe Mark Elchardus diagnostizierte unsere Zeit als eine Zeit mit wenigen Verhaltensvariationen (in seinem Artikel Self-control as social control in: Poetics 37 (2009) 146-161). Wir glauben zwar, dass wir unser Leben selbst lenken, aber wir verhalten uns viel und gerne wie alle anderen auch. Wir lieben Elefantenrouten, wir lieben Schwärme und Sommerfestivals. Diese einzigartige Spezies „Mensch“ benimmt sich oft sehr kollektiv und fremdgesteuert.

So findet im Sommer eine Art Gnuwanderung statt. Menschen verlassen ihre kostspieligen Wohnungen, flüchten vor dem Normalleben und verlassen die Stadt. Paris, Berlin, Köln und Kassel würden verlassen wirken, wäre da nicht noch diese Gegen-Gnuwanderung, mit Touristen, die massenhaft an den großen Attraktionen vorbeiziehen. Flüchtlinge, die es irgendwie auch bis dorthin geschafft haben, verkaufen Ledertaschen und Schmuck. Die Attraktionen befinden sich nicht in Wohnvierteln oder in Kleindörfern. Die Masse versammelt sich bei Highlights wie dem Brandenburger Tor, dem Eiffelturm, dem Kölner Dom oder der documenta. Dass diese Massen von diesen Highlights angezogen werden, bietet aber wiederum Chancen für den Freilandmensch. Der Freilandmensch auf dem Land bleibt verschont vom Touristenmassenverkehr und „CO2, Ruß oder Benzol“.

Utopie der Koexistenz

Die Sesshaften atmen einfach anders. Ein Stück Boden auf dem Land, sei es in der Mitte Deutschlands oder woanders, könnte ein Platz der Selbstverwirklichung, Schaffung und Eigenlenkung sein. Und in den Urlaub fahren, der Herde folgen, geht das noch, darf man das Gemüse im Garten sich selbst überlassen? Die Nachbarn könnten deinen Salat und deine Kartoffeln für dich bewässern. Scheint einfach zu sein, aber an sich ist das schon fast eine Utopie der menschlichen Koexistenz. Einfach mal auf die Katze und die Pflanzen der Nachbarn aufpassen: eine bewährte kooperative Mutprobe.

Aus: DORF MACHEN Improvisationen zur sozialen Wiederbelebung

Ton Matton (Hg.) JOVIS Verlag 224 Seiten mit ca. 260 farb. Abb. Deutsch ISBN 978-3-86859-469-0 03.2017 Mit Beiträgen von Michael Obrist (feld72), Philipp Oswalt, Elise Broeks und Bernadette La Hengst

Welche Zukunft haben Dörfer im Zeitalter der Städte? Welche Perspektiven und Potenziale kann der ländliche Raum noch bieten, wenn immer mehr Menschen vom Land in die Metropolen ziehen? Und könnte eine positiv gewendete „Gentrifizierung“ dabei helfen, Dörfer neu zu beleben? Warum es sich in unserer urbanisierten Welt lohnt, auch die Dörfer als Lebensraum aufrechtzuerhalten, davon erzählt dieses Buch.

Auszug aus dem *Theoriekurs Leben auf dem Lande: Freilandmensch werden (Elise Broeks). Über den Kurs: Vielen Stadtbewohnern fehlt das Selbstvertrauen, auf dem Land zu leben. Obwohl es gute Gründe dafür gibt: mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in überfüllten Großstädten und leidet unter überhöhten Mietpreisen und Luftbelastung – vor allem durch CO2, Ruß oder Benzol. Der Theoriekurs „Leben auf dem Lande“ bietet Stadtbewohnern, die sich ein Freilandleben wünschen, eine attraktive, neo-romantische Einführung ins Landleben. Das Ziel ist, Dorf-Ängste zu unterbinden und mit einer theoretischen Vorbereitung den Einstieg ins Landleben zu erleichtern. Der Kurs (in sechs Folgen) ist geprägt von einer Willkommenskultur und wurde beeinflusst von erfahrenen Dorfbewohnern. Für diesen mentalen Aufbaukurs gelten keine Mindestanforderungen.