Indien zeigt, dass auch in einer modernen Ökonomie die Armut nicht zurückgehen muss, sagt der Soziologe Jan Breman.
Arbeitsnomaden auf Zuckerrohrplantagen, Arbeiter an ihren Maschinen in schäbigen Schuppen und keuchende Rikschafahrer – Jan Bremans Indien ist das Indien der besitzlosen Klasse. „Lohnjäger und Sammler“ nennt sie der nicht-westliche Soziologe aus den Niederlanden, und dies ist auch der – ins Deutsche übersetzte – Titel eines seiner Bücher, das als Nachdruck in dem voluminösen Band The Jan Breman Omnibus erschienen ist.
Dieses Interview ist erschienen in: Das Temperament des Homo Sociologicus. 2019. ISBN 978-3-948513-00-9. Vielen Dank an Jan Breman – das Interview wurde geführt in 2009, s. Quellenangabe* – und an Renate Brucker für diese Übersetzung und redaktionelle Betreuung!
Aufgrund von beinahe fünfzig Jahren Feldforschung dokumentiert Jan Breman den rasend schnellen Übergang von der ländlichen Gesellschaft zur städtischen Weltökonomie. Seine Schlussfolgerung ist, dass Indien die denkbar schlechteste Kombination aus einem rigiden Kastensystem und Marktfundamentalismus darstellt. Sein erstes Zusammentreffen mit den Landlosen in den sechziger Jahren in Indien beschrieb er als „brutalen Schock“. Er sprach von „subhumaner Existenz“ und die Zuckerrohrschneider dort fanden, dass die Hunde besser behandelt würden als sie selbst.
Die Textilindustrie musste billiger werden, Fabriken wurden geschlossen, unregulierte Werkstätten wurden eingerichtet, Gewerkschaften, die noch von Mahatma Gandhi gegründet worden waren, wurden abgeschafft und soziale Rechte gingen verloren. Breman beobachtet eine Renaissance des Sozialdarwinismus. Er kritisiert denn auch Weltbank-Szenarien, in denen der informelle Sektor als Lösung fungieren soll.
Indien ist eine Wachstumsökonomie, aber Breman stellt Rückschritte fest. Die Textilindustrie musste billiger werden, Fabriken wurden geschlossen, unregulierte Werkstätten wurden eingerichtet, Gewerkschaften, die noch von Mahatma Gandhi gegründet worden waren, wurden abgeschafft und soziale Rechte gingen verloren. Breman beobachtet eine Renaissance des Sozialdarwinismus. Er kritisiert denn auch Weltbank-Szenarien, in denen der informelle Sektor als Lösung fungieren soll. Der indische Soziologe Sujata Patel nennt sein Werk „eine Ethnographie der arbeitenden Armen Indiens“. Jan Breman ist seit 2001 Emeritus der Universität Amsterdam.
Sie haben viel Feldforschung betrieben, in Süd-Gujarat in Indien und auf Java in Indonesien und so ein halber Jahrhundert Globalisierung untersucht. Sie haben hässliche Gebiete bevorzugt, die holländischen Polder in den Tropen, wie Sie sie selbst nennen. Warum?
„Nun, holländische Polder können sehr schön sein, aber die Gebiete, wo ich hinkomme, sind landschaftlich tatsächlich nicht besonders imposant. Es sind Poldergebiete, nur ist es wärmer und es gibt mehr Unannehmlichkeiten. Ich wollte mich nicht in Exotismus ergehen. Ich versuche, die Gebiete, in denen ich gewesen bin, nicht schöner zu machen als sie sind.“
nicht-eurozentrisch
Die Einleitung zu The Jan Breman Omnibus schließt mit einer Charakteristik Ihres Werkes. Sie sollen an einer „wirklich globalen, nicht-eurozentrischen Geschichte der Arbeit“ schreiben. Erkennen Sie sich darin wieder?
„In dem Wort nicht-eurozentrisch? Ja, absolut. Die Sozialgeschichte, wie wir sie durchlaufen haben, wiederholt sich nicht. Die Transformation der Gesellschaft in Richtung von Industrialisierung, Urbanisierung und einem ökonomischen Wachstum, das einem stetig wachsenden Teil der Bevölkerung zugutekommt… Es ist nicht zu erkennen, dass ein solcher Prozess sich abzeichnet. Das hat mit der Globalisierung zu tun. Die Annahme, dass sich die Armut vermindert, wenn Menschen in die moderne Ökonomie einbezogen werden, ist falsch.
Hat denn nach Ihrer Meinung die Armut nicht abgenommen?
„Es ist festzustellen, dass der ökonomische Wachstumsprozess sich beschleunigt. Nur ist der Bevölkerungsanteil, der hiervon die Früchte erntet, ziemlich bescheiden. Dabei gibt es einen großen Teil – etwa 30 bis 40 % –, der nur geringe oder gar keine Fortschritte macht. Das ist freilich eine Schätzung auf der Basis meiner eigenen Feldforschungen, nicht aufgrund der offiziellen Statistiken der Regierung. Ich ziehe nicht den Schluss, dass die Armut zunimmt; das wäre eine falsche Annahme. Das Elend ist geringer geworden. Die Armut, die ich zu Beginn der sechziger Jahre angetroffen habe – der Hunger, der Mangel an Kleidung, an Wohnmöglichkeiten –, ist nicht größer geworden. Es ist also nicht so, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Nur, diejenigen, die damals nicht arm waren, die haben sich um ein Vielfaches verbessert. Die Kluft zwischen Arm und Reich hat stark zugenommen. Jede Gesellschaft folgt darin ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. In Indien sieht man die schlechteste Kombination, die denkbar ist: Eine soziale Hierarchie, in der die Gleichheitsidee angesichts des Kastensystems nur geringe Fortschritte gemacht hat, während diese Entwicklung noch einmal durch einen Marktfundamentalismus verstärkt wird, der lehrt, dass man Arbeiter einsetzen und entlassen muss, je nachdem, wie es gerade gebraucht wird.“
Die Beschleunigung
Sie haben sowohl die Kategorie der sozialen Klasse als auch die der Kaste in Ihre Untersuchung der Dorfgesellschaft einbezogen. Die Kinder der höheren Kaste, die Anavils, wandern in die USA aus, die mittlere Kaste, die Kolis, suchen Arbeit in der Stadt und die Frauen entscheiden sich für eine freiere, städtische Identität. Das sieht doch sehr stark wie ein mit höherer Geschwindigkeit ablaufender Film des westlichen Modernisierungsprozesses aus?
„Die Beschleunigung gibt es, ja. Aber ebenso leben wir in einer einzigartigen Zeit. Die Form der Zivilisation, die jahrhundertelang die Welt dominiert hat, die bäuerliche Gemeinschaft, ist definitiv an ihr Ende gekommen. Wir haben gesehen, wie dies in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland, in Frankreich geschah, und nun sehen wir es in der ganzen Welt. Nur bedeutet das nicht, dass diesem Abschnitt Beschäftigung, Ausbildung, ein Mehr an Würde und ein besseres Leben folgen. Der große Unterschied zu Europa ist der, dass es damals, als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft freigesetzt wurden, die Ahnung einer „classe dangereuse“ gab. Man fürchtete, dass Menschen, die in Armut gefangen gehalten werden, ein soziales Problem für die Gesellschaft darstellten und erwartete, dass sie Widerstand leisten und so die bestehende gesellschaftliche Ordnung stören würden. Mein Kollege Abram de Swaan beschrieb das in seiner Studie Zorg en de Staat (1989, Deutsche Übersetzung: Der sorgende Staat. Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit. 1993). Warum ist die Armut in unserer eigenen Gesellschaft zurückgegangen? Wenn man ihm folgt, dann deshalb, weil die besitzende Klasse meinte, dass es eine notwendige Konzession wäre, die arme Unterklasse mit ins Boot zu holen. Das musste geschehen, um die ganze Gesellschaft auf ein höheres Niveau zu heben.
In Indien sehen wir einen Rückschritt. In Ahmedabad, der größten Stadt in West-Indien nach Mumbai, entstand die Textilindustrie schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Damals wurden immer mehr große Textilbetriebe errichtet. Das waren Fabriken, in denen zwei- bis dreitausend Menschen tätig waren, die auch einen Arbeitsvertrag erhielten. Sie wurden ausgebildet, ihre Rechte wurden erweitert, ihre Arbeitsstunden verminderten sich von vierzehn bis sechzehn Stunden pro Tag auf zwölf bis zehn Stunden täglich und schließlich auf acht Stunden, so wie wir es kennen, in drei Schichten. Für Überstunden wurde extra bezahlt. Es gab eine Regelung für besondere soziale Maßnahmen, wie eine Krankenversicherung, die die ganze Familie einbezog. Kurzum, das war eine Existenz als Fabrikarbeiter, wie wir es von westlichen Entwicklungen kennen. Aber im letzten Dezennium des 20. Jahrhunderts schlossen Fabriken, Arbeiter wurden ohne Ausgleich entlassen. Die Fabriken organisierten ihre Arbeit um in informelle Teilarbeit, in schäbigen Schuppen an Webstühlen aus den (alten) Fabriken.“
Durch dieselben Arbeitgeber?
„Oft durch dieselben Arbeitgeber. Ich habe mit Arbeitern gesprochen, die an denselben Webstühlen arbeiteten wie in der Fabrik. Nun aber für weniger als die Hälfte des früheren Lohns und für eine viel längere Arbeitszeit. Was auch verschwinden musste, war ihre Gewerkschaft, und dies war eine sehr wichtige Gewerkschaft, die noch Mahatma Gandhi 1918 gegründet hatte. Wenn in diesen kleineren Werkstätten der Arbeitgeber erfährt, dass jemand früher einer Gewerkschaft angehört hat, dann reicht das aus, um ihn nicht einzustellen.“
War es Optimismus, dieses Aufbaugefühl unter den Menschen dort während Ihrer ersten Feldforschungen in den sechziger Jahren?
„Bestimmt unter den Fabrikarbeitern. Ich habe eine Klasse kennengelernt, Menschen, die auf die Straße gesetzt wurden und sich wirklich betrogen fühlen. Die Explosion gegenseitigen Hasses, die dann 2001 in Ahmedabad ausbrach, hängt auch mit diesen Frustrationen zusammen. Ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung bestand aus Muslimen, die anderen gehörten niedrigen Kasten an, unberührbare und zurückgebliebene Kasten, die auf einmal um ein rares Gut konkurrierten, nämlich um Arbeit. In diesem Konkurrenzkampf wurden die Moslems zur Zielscheibe eines Pogroms gemacht, mit schrecklichen Folgen.“
Sie stellen bei allen Kasten ein Aufleben der Religion fest. Die Anavils renovieren ihre Hindutempel, die Kolis wollen durch Religion in der Hierarchie der Kasten aufsteigen, Frauen machen die strengeren Glaubensregeln zu schaffen. Warum?
„Die politische Bedeutung der Religion nimmt zu, das ist ein Aspekt der Globalisierung. Menschen klammern sich stärker an ihre Identität. Es gibt kein großes, klaffendes Loch zwischen Frau Verdonk, Geert Wilders (niederländische Politiker und Populisten, die sich der Einwanderung und dem Islam entgegen stell(t)en, E.S.) und dem, was anderswo auf der Welt passiert.“
Meinen Sie, dass die Gewalt in Mumbai (2008 E.S.) mit dem Aufeinanderprallen verschiedener religiöser Kulturen zusammenhängt? Hatte der Politologe Samuel Huntington mit seiner Vorstellung von einem „clash of civilisations“ doch Recht?
„Ich möchte zu den Ereignissen zwei Anmerkungen machen. Zuerst: Den größten Teil Mumbais haben Sie nicht gesehen, es leben zwanzig Millionen Menschen dort. Es ist sehr irreführend, dass wir nur die schicken Hotels zu sehen bekommen haben. Dann die zweite Anmerkung: Es wird zu Unrecht eine Verbindung zwischen Religion und Kriminalität hergestellt. Huntington ist ein Außenstehender mit wenig Kenntnis über den Islam, der nicht weiß, wie der Islam beispielsweise zur Aufklärung in Europa beigetragen hat. Wir in unserer westlichen, aufgeklärten Festung sehen andere oft als untergeordnet an.“
Sie haben in einem Artikel, der 2007 in der Zeitschrift Sociologie erschienen ist, bezweifelt, dass die internationale Orientierung ein Pluspunkt der niederländischen Soziologie wäre. Sehen Sie da eher Provinzialismus vorherrschen?
„Der Blick ist nach innen gerichtet. Bei der Globalisierung geht es vor allem um die Auswirkungen auf die niederländische Gesellschaft, oder die Analyse beschränkt sich auf verwandte, westliche Gesellschaften. Kein niederländischer Soziologe forscht in Brasilien. Anthropologen tun dies zwar, aber die forschen auch in den Niederlanden. Die Anthropologen sind nach Hause zurückgekommen, während die Soziologen niemals weggegangen sind. Aber wie der erste niederländische Sozialwissenschaftler, S.R. Steinmetz, schon sagte: „Wer (nur) eine Gesellschaft kennt, kennt keine.“
Sie sind Schüler des niederländischen Soziologen Wim Wertheim (1908-1998). Welche Spuren hat er in Ihrem Werk hinterlassen?
„Ich denke, dass ich Wertheims Spur folge, so werde ich auch gesehen. Wertheim war Richter in Niederländisch-Indien, aber er wurde dann schnell zum Hochschullehrer an der einzigen Universität ernannt, die es damals in Indonesien gab, der Juristischen Hochschule (Rechtshogeschool) in Batavia. Er identifizierte sich mit der Indonesischen Unabhängigkeit, was ihm übelgenommen wurde. In den siebziger Jahren haben die Medien vor allem seine Stellungnahme zugunsten von China gerügt. Sein Werk muss vor allem vom Begriff der Emanzipation her verstanden werden. Entwicklungshilfe hat er immer als Fortsetzung der Kolonialpolitik gesehen, wobei bestehende Abhängigkeitsverhältnisse erhalten bleiben. Darin folge ich ihm.
Indien, Indonesien und China
Sie schreiben selbst, dass die Feldforschungen, die Sie zwischen 2004 und 2006 durchgeführt haben, vielleicht Ihre letzten sein werden. Stimmt das?
Feldforschung ist eine sehr intensive wissenschaftliche Methode mit allerlei physischen Unannehmlichkeiten und Gesundheitsproblemen. Je älter ich werde, desto mehr komme ich an die Grenze meines Kompensationsvermögens. Beim letzten Mal, zwischen 2004 und 2006, bin ich ziemlich ernst krank geworden. Wenn man über siebzig ist, und das bin ich inzwischen, dann ist Feldforschung nicht mehr angenehm. Trotzdem, 2008 bin ich in China gewesen und habe doch wieder Feldforschungen durchgeführt. Auf dieser Basis muss ich meine Rezension von Mike Davis‘ Planet of Slums noch einmal überarbeiten. Mike Davis legt sehr beunruhigendes Material vor. Er zeichnet ein ziemlich düsteres Bild von Urbanisierungsprozessen und Bildung von Slums. Drei von vier Migranten landen in Slums und bleiben dort auch. Die Vorstellung, dass sie langsam ihren Weg nach oben finden, ist nicht wahr, und darin kann ich Davis zustimmen. Einzuwenden ist, dass er Armut zu sehr als Gewaltproblem darstellt. Er nennt auch Shanghai als Stadt, in der sich die Bildung von Slums in großem Maßstab vollzieht. Diese Schlussfolgerung teile ich nicht mit ihm. Den Vergleich zwischen Indien und Indonesien und China auf der anderen Seite finde ich sehr wichtig. Das sind die drei Gesellschaften, um die es in diesem Jahrhundert geht. Allein schon im Hinblick auf den Bevölkerungsumfang – wir sprechen hier über mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. In China ist der Zug in die Städte die größte Völkerwanderung, die es jemals in der Geschichte gegeben hat. Es ist an allem, was in China geschieht, etwa auszusetzen, aber den Migranten, die vom Land in die Stadt ziehen, geht es besser, sie haben eine höhere Wertigkeit als die Massen der Migranten irgendwo sonst in der Dritten Welt. Wenn es Hoffnung gibt, dann vermutlich dort in China.
Jan Breman (geb. 1936) ist seit 2001 Emeritus der Universität Amsterdam und Mitglied der Amsterdam School for Social Science Research. Den Abbau der Textilindustrie in Indien dokumentierte er zusammen mit Parthiv Shah in dem Fotoband Working in the Mill no more (2004, Amsterdam University Press). Eine Übersicht über ein halbes Jahrhundert seiner Feldforschung ist enthalten in The Poverty Regime in Village India (2007).
Literatur
- Jan Breman und Parthiv Sah 2004. Working in the Mill no more. Amsterdam University Press.
- Jan Breman 2007. The Poverty Regime in Village India. Oxford University Press.
- Jan Breman 2008. The Jan Breman Omnibus. With an Introduction by Sujata Patel. Oxford University Press.
*Quellenangabe
Subhumane Existenz: Der Soziologe Jan Breman über ein halbes Jahrhundert Feldforschung in Indien
In: NRC/Wetenschap & Onderwijs, 07 maart 2009, p.4. Subhumaan Bestaan.

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KURZFASSUNG Das Temperament des Homo Sociologicus: Grabsteine lesen, an afrikanischen Festen in London teilnehmen, Konzentrationslager besuchen und mit Textilarbeitern sprechen. Oder eine Burka vergleichen mit einem dick eingepackten niederländischen Marathon-Schlittschuhläufer. Fünf SozialwissenschaftlerInnen sind auf der Suche nach neuen Erkenntnissen in einer sich schnell verändernden Gesellschaft. Sie wollen sehen und verstehen. Sie interessieren sich unablässig intensiv, und ohne Scheu für das Tun und Lassen der Menschen.