Oder über die Umarmung der Geographie*

Wer ist Europa? Dies ist kein Schreibfehler eines Immigranten in Deutschland, sondern eine Frage, um gemeinsam darüber nachzudenken, wer Teil dieses faszinierenden Kontinents ist und was es bedeutet, Europäerin zu sein. Die Reise ist sowohl soziologisch als auch persönlich und soll dazu einladen, die europäische und vielfältige Identität zu überdenken. Basierend auf meinem Vortrag funktioniert die Reise wie eine mentale Reise, die in Zeiten stattfindet, die für unsere gemeinsamen Identitäten wichtig sind.

Vortrag Volkshochschule (vhs) Ehm Welk, 23.05.2024, Schwerin, Germany. Für die Unterstützung und Zusammenarbeit möchte ich mich bei der vhs herzlich bedanken. Der Vortrag mischte Wissensbausteine mit biografischen Erfahrungen. Gemeinsam legten wir Karten auf eine alte Europakarte aus dem Fundus (siehe Bild): Wer ist Europa? Welches Wort fällt Ihnen dazu ein? Schreiben Sie ein Wort auf eine Karte. Es kann ein Ort sein, Arbeit, Urlaub oder Geschichte, ein Moment in Ihrem Leben, ein Auslöser in Ihrer Biografie. Es kann alles sein, Sie haben 7! Karten. Wenn Sie 7 Wörter haben, kommen Sie und legen Sie sie auf die Karte. Fragen Sie Ihren Nachbarn, warum, wieso, was ist passiert?

Gemeinsam legten wir Karten auf eine alte Europakarte aus dem Fundus.

Wer ist Europa? Drei Antworten

Kann auch hier in der PdF gelesen werden: Wer ist Europa_PdF

Antwort 1: Europa ist eine spannende Geschichte

Der griechische Mythos erzählt, dass Europa, die Tochter des phönizischen Königs Agenor, sich mit ihren Freundinnen an den Stränden des Mittelmeeres aufhält. Zeus verliebt sich in das schöne Mädchen und beschließt, sie zu entführen. Er versteckt sich und nimmt die Gestalt eines weißen Stieres an, kommt aus dem Meer auf Europa zu, die das schöne Tier streichelt und auf seinen Rücken klettert. Dann stürzt sich der Stier mit Europa auf dem Rücken ins Meer. Wie durch ein Wunder werden die beiden nicht einmal nass! Zeus schwimmt nach Kreta, wo er sich ihr in göttlicher Gestalt zeigt und sie drei Söhne bekommen. Dank eines Versprechens der Liebesgöttin Aphrodite wird ihr neuer Heimatkontinent nach ihr benannt: Europa. Diese Geschichte kommt auch vor als orientalische Sage und erzählt von der Begegnung der verschiedenen Kulturen in den Ländern dieses Raumes (u.a. Türkei, Iran, Israel, Palästina, Ägypten).
Die Historikerin Annette Kuhn stellt dass im Rückblick die Geschichte viele Fragen aufwerft. Von mir populär übersetzt: Ist es eine Tatort-artige-Raub-Geschichte? Eine friedliche Die Schöne und das Biest-Romance? Oder geht es um die Verwandlungskünste des Zeus, der sich letztendlich das Menschliche und der Liebesgöttin Aphrodite, anpasst? Gibt es eine verborgene, matriarchale Geschichte Europas? Dafür muss man dann Kuhn lesen, sie kritisiert: ‘Die Männer der Französischen Revolution und ihre Erben im 19. und 20. Jahrhundert waren nicht bereit, das Zusammenspiel von Gleichheit und Differenz, das in dem klassischen Bild der Europa zum Ausdruck kommt, anzuerkennen.’ (Kuhn 2008: s.198)

Interessant ist, dass schon in der Antike Mythen auf Fakten überprüft wurden. Rationale Erklärungen wurden gesucht und die Wahrheit über die griechischen Mythen erforscht. Über die Geschichte Europas hieß es schon damals, dass Zeus, wenn er Europa nach Kreta hätte bringen wollen, sicher einen anderen und besseren Weg für sie gefunden hätte (Palaephatus und Brodersen 2017). Die Geschichte liegt nicht im Bereich der Fakten, hat aber gerade deshalb die Qualität des inspirierenden Erzählformats eines Mythos. Nicht nur in der Geschichte gibt es viele Bilder von Europa, sondern auch auf dem Euro. Man muss sich nur einmal einen 5-Euro-Schein oder eine 2-Euro-Münze aus Griechenland anschauen ….. Dort ist Europa abgebildet, also das Bild der Frau ‘Europa’. Damit kommen wir zum zweiten Antwortbereich der Frage Wer ist Europa: Europa ist (auch) Handel.

Antwort 2: Europa ist eine Handelsgesellschaft, am Beispiel der Hanse

Die Brüder Clemens und August zogen los, um Kleider zu verkaufen. Einfach so? Mit dem Rucksack, von Tür zu Tür, von Dorf zu Dorf, von Markt zu Markt. C(lemens) & A(ugust) sind ein großes Unternehmen geworden. Und irgendwie steht dieser Handelsgeist für ganze Geschichten von Orten, Verbindungen und Sprachen. Europa ist, wie andere Kontinente auch, ein Ort des Handels, der Städte und der Regionen. Es gibt auch eine Geschichte der Gewalt. Die Blüte Amsterdams zum Beispiel ist auf Blut, auf Sklavenhandel und Ausbeutung gegründet. Das darf man nicht vergessen. Handel aber basiert auch auf Neugier, Reiselust und Unternehmergeschichten, überall auf der Welt. Eine zwiespältige Geschichte also, die uns aber nicht spalten darf und soll.

Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist die Geschichte der Hanse. Die Hanse ist eine Interessengemeinschaft und ein Netzwerk von Kaufleuten, die ihre Blütezeit vom 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts erlebten. Sie verband viele Städte, bis zu 200 an der Zahl. Es war ein loser Verbund, man konnte beitreten, austreten, aber auch ausgeschlossen werden, was zum Beispiel Bremen und Köln widerfuhr. Zentrale Orte waren Brügge, Bergen, Nowgorod und London. Gehandelt wurden u.a. Bienenwachs, Holz, Getreide, Wein, Bier, Flachs, Leinen, Honig.
Es gab zwei Hauptziele ganz praktischer Art:
1. Erhaltung der Privilegien und damit Aufbau einer vorteilhaften Stellung im Ausland / Exklusivrechte für die Eidgenossen, mit Rechten und Pflichten.
2. Reglementierung des Handels zur Minimierung der Transaktionskosten / Sicherheit vor Diebstahl, Kontrolle des Wiegens der Waren.

Kommt uns das nicht bekannt vor? Was in West-Europa als Friedensprojekt begann, führte 1951 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und 1957 zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). In der heutigen Zeit sprechen wir von ‘Seltenen Erden’ und die Geographie ist in eine Umarmung von Großmächten verstrickt, die versuchen, wertvolle Elemente zu erobern. Europas Handelsmacht muss neu definiert und verteidigt werden.

Die Sprache der Hanse

Das Wort “Hansa” wurde übrigens im neunten Jahrhundert für “bewaffneter Schar”, Bande, Gruppe verwendet. Später nannte man eine Gruppe von Kaufleuten, die gemeinsam durch Westeuropa reisten, Hanse. Niederdeutsch, ein Sammelbegriff für westgermanische Dialekte, fungierte als eine Art lingua franca. Schriften wurden zunächst in lateinischer, ab 1369 in niederdeutscher Sprache verfasst. Es hat sich gegenüber dem Hochdeutschen abgegrenzt, aber überlebt.

Im Jahr 1980 fand ein weiterer Hansetag statt und die Neue Hanse wurde gegründet. Die Neue Hanse will einen Beitrag zur europäischen Einheit leisten, indem sie das Konzept der international ausgerichteten europäischen Stadt/Gemeinde mitgestaltet. 2024 wurde in Danzig gefeiert. Die europäische Stadtidentität entwickelt sich im Kontext eines umfassenderen Identitätskonzepts, was uns zur dritten und letzten Antwort auf unsere Frage führt: Wer ist Europa?

Antwort 3: Europa ist eine vielfältige, vielschichtige Identität

You cannot fall in love with the common market. Du kannst dich nicht in den Binnenmarkt verlieben. Sagte Jacques Delors, Präsident der Europäischen Kommission von 1985 bis 1995.
Bei dieser Quote musste ich nicht nur wieder an die Hanse denken (internationale Kontakte gehen auf Handel und Reisende zurück), sondern auch an die LiebesGöttin Aphrodite und die spannende Ursprungslegende Europas. Was Delors mit dieser Quote meinte, ist, dass wir eine Vision brauchen, eine Leidenschaft: Was ist der Kern der europäischen Idee und was sind die leidenschaftlichen Grundwerte und Ziele?

Unsere Frage “Wer ist Europa?” führt uns also zu Fragen der Identität. Wann ist man Europäer? Europäerin? Was bedeutet es, Europäerin zu sein? Ich bin Soziologin, und für mich ist Identität immer eine soziale Identität, die wir im Spiegel der Gesellschaft, der sozialen Gruppen, der Interaktion und unseres sozial konstruierten Selbst konstruieren.
Übrigens ist es nicht so einfach, das Wort “wir” zu benutzen. Ich tendiere zum Wir, aber es ist sehr berechtigt zu fragen: Wer ist ‘wir’? Es hängt von der Situation ab, aber ich benutze es gerne einladend und friedensstiftend: Wir sind in der Lage, gemeinsame Geschichten und Identitäten zu entwickeln.

Ich habe Antworten aus drei (oder vier) europäischen Ländern gesammelt:

Aus Portugal berichtet Daniel Noversa (2022). Er hat im Rahmen des Erasmus-Programms (dem Austausch- und Stipendienprogramm der EU) unter Studierenden geforscht und Gruppeninterviews durchgeführt. Ganz kurz zusammengefasst: Die Studierenden haben zweimal in ihrem Leben ein ‘Euro-Ereignis’ erlebt, 2008 die Finanzkrise und 2015 die Migrationsereignisse. Sehr ehrliche Gespräche und auch Probleme werden angesprochen. Man fühlt sich oft mehr als Worldcitizen, als Weltbürger, und wenn zwei Menschen sagen, sie sind Europäer, dann können sie damit ganz unterschiedliche Dinge meinen. Aber wir haben eine Flagge. Die europäische Identität ist also polyedrisch.

Der aus Deutschland und der Schweiz stammende Martin Kohli (2000) schreibt über ‘Die Schlachtfelder der europäischen Identität’, also noch vor den Finanz- und Migrationsereignissen.
Der Soziologe Kohli fragt, ob wir überhaupt eine europäische Identität brauchen. Er benennt zwei analytische Probleme: Erstens sei ‘Europa’ selbst mehrdeutig, und zweitens sei auch ‘Identität’ keineswegs ein leuchtender, eindeutiger Begriff. Und Globalisierung und Individualisierung sind Kräfte, die eine ‘Europäisierung’ nicht einfacher gemacht haben.
Eine der interessanten Ideen, die er aufgreift, ist die hybride Kultur. Europa sei geprägt von Gegensätzen, von Pluralität und Vielfalt. Der Autor Morin spricht von einer ‘Bouillon de Culture‘. Dabei sei der Zweifel auf Dauer wichtig, durch den Zweifel komme es zur Entwicklung, zur Anpassung, zum Wettbewerb. Aber er bringt neben Fortschritt auch Unsicherheit. Das führt zu Konflikten, die manchmal in kleineren geografischen Einheiten ausgetragen werden, denken Sie an Paris, in den Banlieues, auf der Straße. Oder die Menschen, die an den Toren Europas zurückbleiben, mit wenig Hoffnung. Kohli’s Fazit: Eine alte Agenda bleibt sehr wichtig, nämlich Inklusion und Wohlfahrt zu bieten.

Eine dritte Antwort kommt aus Polen und Deutschland. Wissenschaftler neigen übrigens dazu, nicht ihre Herkunft, sondern ihre Texte in den Vordergrund zu stellen. Ireneusz Pawel Karolewski (2023) bezieht sich in seinem Text auf Hannah Arendts “Recht, Rechte zu haben” und auf die Bürgerrechte, wenn es um Europa geht, und konzentriert sich auf die “soziale Bürgerschaft“: einen inklusiven, nicht diskriminierenden Zugang zu grundlegenden Rechten wie Krankenversicherung, auch wenn man in einem anderen EU-Land bleibt. Eine seiner Empfehlungen ist, den Entwicklungen in Osteuropa und den Unterschieden zwischen Stadt und Land mehr Aufmerksamkeit zu schenken. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff ‘Nested Citizenship’, was übersetzt ‘mehrschichtige Staatsbürgerschaft‘ bedeutet. Das scheint mir ein wichtiger Ansatz zu sein: Die europäische Identität ist mit der internationalen, nationalen, regionalen und lokalen Identität verbunden.

Fazit

Was toll war: der Übergang zum interaktiven Teil meines Vortrags war fast 🙂 fließend. Die Kärtchen, die wir auf eine Europakarte legten, zeigten eine Vielzahl von Themen und Orten, an denen wir uns als Europäer fühlen und waren. Es ging um Urlaub, Krieg, Freunde, Arbeit, Wissenschaft, Familie, Sport. Und da kam dieses faktische Glücksgefühl auf: wie wertvoll es ist, in einem Europa ohne Binnengrenzen leben zu dürfen.

Oftewel in het Nederlands: Europa is best een aardige achtertuin. Een liefdevol understatement.

Autorin: Ellie Smolenaars 20.02.2025

* ‘Oder über die Umarmung der Geographie’ referiert an ‘die Umarmung der Geographie’, nach Andrzej Stasiuk (2016) in ‘Der Osten’, aber doch weniger nostalgisch gemeint als Stasiuk, mehr eine positive Umarmung und sicher keine Vereinnahmung, einfach weil ich, und jeder Mensch, eine differenzierte Umarmung erfährt. Ich habe viel zu verdanken: den Niederlanden, BeNeLux, dem ErasmusEU-Programm, den Migrantinnen, für die Sprache und die Rettung vor einer rein holländisch/norddeutschen Kulinarik, und meinen Eltern.

Literatur

Cruyningen, A. van (2019) De Hanze: de eerste Europese handelsmacht. Utrecht: Uitgeverij Omniboek.

Karolewski, I.P. (2023) ‘EU Citizenship and the Young People in the Peripheral Areas of East Central Europe: Three Recommendations for Research on Citizenship’, in EU Citizenship Beyond Urban Centres, Astrid Lorenz, Lisa H. Anders (eds.). Springer (The Future of Europe), pp. 237–250. Available at: https://link.springer.com/content/pdf/10.1007/978-3-031-29793-9_20.pdf.

Kohli, M. (2000) ‘The battlegrounds of European identity’, European Societies, 2, pp. 113–137. Available at: https://doi.org/10.1080/146166900412037.

Kuhn, A. (2008) ‘Warum sitzt Europa auf dem Stier? Matriarchale Grundlagen von Europa’, in Frauen verändern EUROPA verändert Frauen. Düsseldorf: Impressum Herausgeber Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen, pp. 191–200.

Noversa, D. (2022) ‘Projected Europe: Understanding the Meanings Associated with European Identity from Erasmus Citizens’ Point of View’, Journal of Identiy and Migration Studies, 16(1), p. 2022.

Palaephatus and Brodersen, K. (2017) Europa und Herr Stier: Palaiphatos’ Wahrheit über die griechischen Mythen: Griechisch/Deutsch. [Nachdruck] 2018. Ditzingen: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 19458).

Smolenaars, Ellie (2016). Met Andrzej Stasiuk op zoek naar Europa en een niet-consumentistisch-wij. Geplaatst 27/05/2016.

Stasiuk, Andrzej (2016). Der Osten. Suhrkamp Verlag Berlin. Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Original 2015: Wschod.