Ergebnisse aus dem Mikrokosmos @the countryside und dem Kapitalozän
Als großer Inhaltsgewinn hat mich mal ein Tipp direkt ins soziologische Herz getroffen. Dieser Tipp aus einem einfachen Gartenbuch verbindet vier Elemente: (1) den Boden mit (2) dem Zeitalter, in dem die Menschheit lebt – dem Kapitalozän –, mit (3) einem Prozess – sozialer Morphogenese – und mit den Inhalten dieses internationalen (4) Summer-school-Buches. Der Tipp aus dem Gartenbuch? Wenn naturbelassen, behaupten sich auf einem Stück Boden von 50 x 50 cm fünf Pflanzensorten.
Veröffentlicht: Smolenaars, Ellie 2022. Soziologie der fünf Arten pro 50 cm2. pp. 6-7 In: @the countryside. Wendorf Academy SummerSchools. ISBN 9783948513023
Der Gartentipp: fünf Sorten
Zusammen besiedeln fünf Pflanzensorten ein Quadrat von 50 cm. In meiner Gartenerfahrung gelingt es einer Kiefer immer irgendwie, sich mitten im Thymianfeld zu vermehren; ein Löwenzahn kämpft sich dazwischen und darunter hindurch; Gras, oh, Gras, warum schaffst du es überall, oder schlimmer noch: Ist das Quecke? Dann schlängelt sich Wicke irgendwie durch. Wenn ich vor Ort eine Führung durch den Kräutergarten mache, so wie das auch während einer Summerschool @the countryside geschah, kann ich sie empirisch belegen, diese Fünfer-Hypothese. Man kann sie auch in der Natur beobachten, im Park, auf dem Feld oder in einer Schüssel, die mit Kompost aus der eigenen Küche und dem Garten gefüllt ist.
Als Metapher, finde ich, bietet diese Fünfer-Konstellation Trost: Sie wirkt wie eine friedliche Lösung. Obwohl die Sorten sich gegenseitig bekämpfen, bis jede einen Platz findet, tritt eine Art temporäre Stabilität ein, eine Art Sub-Harmonie. Es passt zusammen, was nicht zusammengehört, und natürlich kommt es da zu Konflikten. Wer darf wo, wie viel und warum wachsen? Die schönsten Orte auf dem Grundstück der Wendorf Academy sind weniger die Stellen, an denen eine Sorte die Überhand gewonnen hat, sondern die Stellen, an denen man den Kampf beobachten kann. Man sollte besser pflanzensoziologische Begriffe verwenden und von einer Pflanzengesellschaft sprechen, in der man die fünf Stärksten beobachten kann.
Gleiches gilt für dieses Buch: Die schönsten Stellen sind die der Fünfer-Kombinationen, an denen Inhalte und Menschen Soziologie der fünf Arten pro 50 cm2 aufeinandertreffen, die sich zueinander verhalten (müssen). Oder dies nicht tun, sodass es an den Leser:innen ist, eine Haltung zu entwickeln. Die Leser:innen sind in einer besonderen Position: Sie können jede Perspektive einnehmen, beobachten und für sich entdecken und ernten, was ihnen wertvoll scheint. Mit dieser organischen Wirkweise kommen alle Beiträge zur Entfaltung – wobei es Ruhe, Frieden und Eigenzeit bedarf, Elementen, die in diesem Zeitalter selten sind.
Forschung und Performativität: Inhalte jagen und sammeln
Obwohl die Summer-school-Schemata und -Poster der Wendorf Academy ein wenig den Eindruck vermitteln, als ob eine Art rationale Planung gelten würde, setzen die Summer schools voll und ganz auf Improvisation und individuelle Ressourcen. Deshalb war jede der drei Summer schools einzigartig, nicht zuletzt wegen der Umstände. Vieles spielte sich wegen der Pandemie draußen ab. Gesammelt wurden Ideen, Bilder, Zeichnungen, Notizen, Essays und Zitate. Es fand interdisziplinärer Austausch statt. Die Teilnehmer:innen kamen aus den Bereichen Architektur und Städteplanung, Design, Kunst, Soziologie und Philosophie. Der Fokus lag auf Entwicklungen einer schrumpfenden Bevölkerung, Ernte, landwirtschaftlicher Produktion und Technologie.
Ergebnisse aus dem Mikrokosmos @the countryside
Die Forschung in den Summer schools hat gezeigt: Die Countryside ist eine lebendige Idee und Praxis und zur gleichen Zeit ein Mikrokosmos, in dem man mindestens fünf Arten von Wissen und Fühlen erfahren kann. Die Bilder reihen sich mittels einer Tagesstruktur aneinander, vom Vormittag über den Nachmittag und Abend bis in die Nacht. Die Texte sind sinnlich, analytisch, spielerisch, forschend, kritisch. Die folgenden fünf Arten kann man nacheinander und durcheinander und zyklisch immer wieder durchleben und -denken.
Suche und sammle in diesem Buch:
1. das Empfinden und die spontanen Eindrücke, wie Stille, Hingabe, Liebe zur Natur;
2. die körperliche Bewegung und das Mitschwingen mit der Landschaft und der Ernte durch Wandern, Essen und Kochen in der Außenküche;
3. das Denken und Forschen und Fragenstellen: Was ist passiert? Warum ist das Leben auf dem Lande, in the countryside, heute so anders als früher? Was macht (digitale) Technik mit der Landschaft?
4. wie das Wissen mit den Antworten auf die Fragen entsteht, und identifiziere dabei die Faktoren und Folgen: Informationsoverload; EU-Landwirtschaftsvorgaben, Touristifizierung; nicht-autonom-humaner Umgang mit Technologie; Diversitätsverlust;
5. neue Lösungen: Realistische Zielsysteme beim Wirtschaften implementieren; lokale Betroffene involvieren; hypermoderne Erfindungen annehmen; Sprache anders benutzen; prozessuale Betrachtungen mobilisieren und improvisieren.
Das Kapitalozän* und die soziale Morphogenese
Es gelten die Bedingungen unserer Zeit und Herkunft: Eine Summer school findet nicht in einem Vakuum statt. Hilfreich ist es, die Konsequenzen der Umstände zu verstehen, ohne auf Handlungsmöglichkeiten zu verzichten. Das Konzept der sozialen Morphogenese passt gut dazu. Die britische Soziologin Margaret Archer entwickelte eine Theorie der sozialen Morphogenese, die
– sehr kurz zusammengefasst – von einer Formel mit drei Zeitpunkten ausgeht: Zeitpunkt T1 der strukturellen Konditionierung, T2 der sozialen Interaktion und T3 der strukturellen Auswirkungen. Hört sich simpel an, ist es vielleicht auch: Die Essenz der Erkenntnisse ist, dass wir schon anfangen zu denken und immer innerhalb einer Struktur leben. Diese Struktur bietet Handlungs- und Veränderungsmöglichkeiten. Die Muster der Struktur können sich ändern, das ist das Prinzip Hoffnung, aber wie sie sich genau ändern, wissen wir nicht. Bekannt ist jedoch, dass auch feste, vererbte Strukturen sich ändern können. Die Soziologin Archer greift, wie auch der Mathematiker Alan Turing, bei ihrer Morphogenese auf die Fellmuster von Zebras und Giraffen zurück. Damit soll visualisiert werden, wie fest Strukturen sind, aber auch gezeigt werden, dass man sie berechnen (Turing) und es auch Abweichungen und Veränderungen (Archer) geben kann.
Die dominante Struktur in unserem Leben kann mithilfe des Konzepts des Kapitalozäns* gedeutet werden. Unsere Zeit ist vom Kapital geprägt, und viele Prozessen werden aus einer bestimmten Art des Finanzkapitaldenkens heraus gelenkt. Wir leben in einer Zeit, in der das Kapital einen Teil der Menschheit verführt und (teils unsichtbar und indirekt) zu bestimmten Verhaltensweisen zwingt. Das konkurrierende Konzept des Anthropozäns, bei dem der Einfluss der Menschheit auf das Klima der Erde im Fokus steht, geht auf diesen Aspekt ungenügend ein. Es führt an dieser Stelle zu weit, dies zu vertiefen. Anschaulich wird es am Beispiel des Bodens: Im Kapitalozän kommt auf den 50 x 50 cm oft nur noch eine Sorte vor, nämlich Kies, Rasen, Raps, Beton, Weizen oder Mais.
Die Natur selbst hat übrigens auch gleichmacherische, ja fast oligarchische Züge. In zentralen nordeuropäischen Regionen würde die Natur letztendlich 50 cm2 Buchenwald wachsen lassen, mit einer dicken Schicht Buchenblätter auf dem Boden, die andere Pflanzen unterdrückt. Alles zugunsten einer Sorte. Ich finde Buchenwälder sehr schön, aber die fünf Sorten gefallen mir besser. Dabei hoffe ich, dass dieses Buch anti-oligarchisch wirkt und die Diversität der Denker und Macher offenlegt. Auf dass es in Mecklenburg-Vorpommern @the countryside Bewohner, Kreative, Gäste, Landwirte und Naturfreunde geben möge. In der Wendorf Academy gibt es übrigens noch einen Geheimtipp: Seit dem 16. April 2021 gibt es dort eine Statue von Karl Marx. Kleiner Kapitalozän-Geheimtipp.
And … the summer schools @the countryside were a social experiment, combining the best talents of all international participants from China and Russia, Austria, Germany and the Netherlands. We hope #Mecklenburg-Vorpommern has gained a small place in your hearts and minds now and we
are headed towards a bright future thanks to our international relations and peace contracts.
Literatur
Archer, Margaret 1995. Realist social theory: the morphogenetic approach.
Cambridge University Press.
Turing, Alan 1952. The chemical basis of Morphogenesis. In: Philosophical
Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences, Vol.
237. No. 41. pp. 37-72.
* The concept of the Capitalocene was first used by Andreas Malm and Jason
Moore.
Many many thanks to all participants who let the summer shine!
The Summerschools were made possible by:

